Wiener Radkultur und andere Ungereimtheiten

Während die Stadt Wien laut The Economist die lebenswerteste Stadt der Welt im Jahr 2023 ist, beziehungsweise die Stadt Wien in Europa beim Thema Lebensqualität auf Platz 7 liegt, und laut Statista.com bei der Freudlichkeit in Europa den 5. Platz erreicht und die Hauptstadt eines Landes ist, welches im Best Countries Ranking 2022 bei der höchsten Lebensqualität „nur“ den 13. Platz erreicht, drängt sich in der einheimischen Bevölkerung so manches Unwohlsein durch die engen Straßen und Gassen der Donaumetropole.

ARGUS Bikefestival Wien
Abbildung: Ein spektakulärer Teil Wiener Radkultur: Das ARGUS Bike Festival am Wiener Rathausplatz

Nun ja, man kann sich Wien „schönsaufen“ und die Welt dreht sich feuchtfröhlich weiter vor sich hin. Wien ist anders und besonders wenn es darum geht, die eigene Welt mit dem Instrument „Brot und Spiele“ stets durch die leicht beschwingte rosarote Brille zu sehen. Gleichermaßen ist es aber auch legitim, gewisse Tendenzen und Veränderungen im Lebensraum der einheimischen Bevölkerung kritisch zu betrachten. Auch das ist Kultur und speziell auch, wie in diesem Artikel beschrieben, die Kultur des Radfahrens …

… die Wiener Radkultur

Während die einen von den zahlreichen neuen Radwegen in Wien schwärmen und zurecht den fortwährenden Ausbau des bislang ca. 1.721 Kilometer langen Radwegenetztes in Wien bejubeln, wird auf anderer Seite kritisiert und von Zahlentricks beim Wiener Radwegausbau gesprochen. Es wird debattiert und diskutiert, gemogelt, verschönert, madig gemacht und kleingeredet, geschimpft, gedrängelt und geraunzt … typisch wienerisch, könnte man meinen. Ja, auch das alles ist heiß geliebte und zugleich verächtlich betrachtete Radkultur. Politisch wird das Radfahren in der Stadt Wien oft mit einer Art von Selbstbeweihräucherung ausgeschlachtet und Radwege grün angemalt um zu symbolisieren, wie ökologisch man dabei vorgeht.

Es sind bereits sehr viele Radwege in Wien gebaut worden, die zu einem beachtlichen Teil irgendwie in das bestehende Stadtbild „hineingepickt“ wirken. Zahlreiche Hindernisse (enge Stellen mit Kurven, Radweg-Unterbrechungen, Schlaglöchern, umständlichen Passagen mit vielen Ampeln an diversen Plätzen, …) machen es dem Radfahrer, der tagtäglich das Radwegenetz befährt, nicht unbedingt einfach und sogar gefährlich. In den Stoßzeiten wird das Radfahren in Wien im Alltag auch immer wieder mal zur Mutprobe. Die engen Gassen der inneren Bezirke sind nunmal nicht darauf ausgerichtet, für entsprechend sicheren Platz in der Stadt zu sorgen. Da hilft es auch nicht, den Radweg auf der Ringstraße grün anzumalen.

Auf der anderen Seite gibt es Stellenweise bereits wirklich tolle Radwegpassagen in Wien für ein reibungsloses Vorankommen, diese halten sich aber dennoch hartnäckig in Grenzen. Insgesamt lässt sich behaupten, dass die Stadt Wien ein Meister darin ist, Dinge halbseiden anzugehen – nicht Fisch nicht Fleisch – Veggie und Öko aber doch von allen ein bisschen. Es allen recht machen wollen und die Fassade zum glänzen bringen, auch wenn es dahinter schimmelt. So nährt man eine fortwährende Streitkultur und kührt selbsternannte Moralapostel, die gerne und voller Überzeugung den Zeigefinger heben, oder die belehrende Autohupe drücken. Dort wo die Obrigkeit für halbseidene Defizite sorgt, wird moralistische Selbstjustiz gelebt und dabei sind wir noch nicht einmal bei den Radfahrern selbst angekommen und der Radkultur, die sich direkt am Sattel der Kultobjekte auf zwei Rädern abspielt. Ja, Radkultur ist auch dort zu finden, wo Radfahren selbst stattfindet.

Ja, aber in anderen Städten ist es noch schlimmer ...

Das ist das Parade-Argument eines Wiener Stadtbewohners, wenn man seinen urbanen Lebensraum kritisiert. Aber macht es wirklich Sinn, sich mit anderen Städten zu vergleichen, nur um sich in seiner Stadt glücklich fühlen zu können? Wir können doch froh und dankbar sein, dass wir am schönsten und lebenswertesten Flecken der Welt leben, wo alles viel besser ist als überall anderswo auf der großen weiten Welt. Mit der Art von Schönmalerei lässt sich die eigene Welt sehr fein beschreiben. Solange uns tagtäglich erzählt wird, wie schlimm es auf der ganzen anderen Welt zugeht und wir quasi alleine auf der kleinen österreichischen Insel der Seeligen sitzen, ist ja alles gut. Ja, auch das ist Kultur, die Kultur der Verdrängung. In der Realität ist es hingegen so, dass es Länder und Völker gibt, denen es wirklich auch gut geht und die wesentlich kritischer mit sich und ihren Entscheidungen umgehen.

Denn speziell dort, wo gerne schöngefärbt wird, sollte man ganz genau hinschauen. Oftmals wird das Schöngefärbte frisch verpackt zum Zwecke von Teuerungen und Prestige zugunsten jener Personen, die daraus profitieren. Auch das ist Kultur, auch wenn man das in gewissen Kreisen so gar nicht sehen will.

Aber was ist Kultur eigentlich und was ist die Wiener Radkultur?

Die Definition von Kultur kann je nach Kontext variieren, aber im Allgemeinen bezieht sich Kultur auf die Gesamtheit von Werten, Überzeugungen, Verhaltensweisen, Traditionen, Normen, Kunstformen und Wissen einer bestimmten Gruppe von Menschen. Kultur prägt, wie Individuen innerhalb dieser Gruppe denken, handeln, kommunizieren und sich in ihrer Umgebung bewegen.

Kultur kann man als ein soziales Konzept verstehen, welches Menschen in sozialen Gruppen verbindet, sei es auf der Ebene von Nationalitäten, Ethnien, Religionen oder anderen Gemeinschaften. Die Kultur einer Gesellschaft wird von Generation zu Generation weitergegeben, oft durch informelles Lernen, Beobachtung und direkte Erfahrungen.

Es gibt nicht die eine Kultur. Dazu ist diese Thematik viel zu vielfältig und kann von Ort zu Ort, von Gruppe zu Gruppe und von Zeit zu Zeit variieren. Kultur spielt eine wichtige Rolle bei der Identitätsbildung und dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft.

Die Kultur der Wiener

Auf der einen Seite sieht sich Wien als weltoffene, moderne, inklusive und umweltbewusste Stadt mit der lebenswertesten Bewertung auf der ganzen Welt. Es gibt auch die Kultur des „Oida„, die ihren Ursprung im österreichischen und bayerischen Dialekt findet. Das wienerische „Oida“ wird mit einer besonderen „Slanghaftigkeit“ zwischen den Lippen hervor gebracht. Obwohl dieser Ausdruck je nach Betonung ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann, wird es in Wien nur all zu gerne für negative Ausdrucksformen verwendet.

Der typische Wiener schimpft, raunzt, schwindelt, hintergeht, missachtet und verteidigt sein Weltbild mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Der Wiener predigt Wasser und trinkt (Spritz-) Wein. Er spielt gerne den Moralapostel und wenn es um ihn selbst geht, dann nimmt der das mit der Moral dann lieber doch nicht ganz so ernst.

In der Wiener Kultur ist es tief verankert, dass solange man der allgemeinen Meinung folgt, einem so gut wie nichts passieren kann. Gesellschaftlich hat man dann sogar den Freibrief, in seinem Handeln vom Narrativ abzuweichen, solange man sich aber dennoch dazu bekennt.

Die Wiener Radkultur …

… findet sich in gewisser Weise in diesem Weltbild wieder. So wankelmütig wie das Mindset, sind auch die meisten Radwege angelegt. Statt Geradlinigkeit ist dieses „mal nach links und mal nach rechts“, „mit der Kirche ums Kreuz“ und „nicht Fisch – nicht Fleisch“ an der Tagesordnung. Das Schlimme daran, irgendwer muss für diese Kultur der Unschlüssigkeit (manche nennen es liebevoll Diplomatie) bezahlen.

Wer bezahlt die Zeche?

Sind es die Kleinkinder, die von Rennrad-Rowdys von der Straße gedrängt werden? Oder bezahlen die Rennradfahrer, die in ihrem Handlungsspielraum vielerorts Einschränkungen hinnehmen müssen, da sie nicht so radeln können, wie es ihre Rennräder zulassen würden. Sind es die genervten Autofahrer, die sich immer noch die Straße mit Radfahrern teil müssen? Ist es die Allgemeinheit, die für extrem teure Halb- und Notlösungen im Stadtbild bezahlen müssen? Sind es jene Einwohner, die Missstände aufzeigen und nicht gehört werden?

Fazit:

Nicht alles ist verkehrt, Vieles ist gut und oftmals ist noch mehr nicht – oder noch nicht – gut. Es geht bei der Wiener (Rad-)Kultur ja offenbar nicht darum, was jetzt gut oder nicht gut ist, sondern darum, dass zu Missständen eine offene und vorallem ehrliche Debatten-Kultur bestehen sollte, in welcher nichts schön geredet – aber auch nicht totgeschwiegen – wird. Es wird nie perfekt sein, daher kann und darf es auch stets Kritik geben.

Die Frage ist, ob die Wiener Kultur dafür bereit ist …